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Für das KKG begann der Erste Weltkrieg als große Aufregung in den Ferien. Die Schüler liefen neben Marschkolonnen und Pferdewagen her, schleppten Butterbrote und Getränke zu den Bahnhöfen, zeigten den Weg zur belgischen Grenze... – und es zogen und fuhren ohne Ende Soldaten durch. Aachen war ein Schlüsselpunkt für die Invasion des neutralen Belgien. Bis September blieben Schüler aus Monschau gelegentlich weg, weil die Vennbahn allein für den Schlieffenplan arbeitete.

Die Schule war eingebunden. Praktisch als Teil der Mobilmachung wurde ein Notabitur für Schüler der oberen beiden Klassen abgenommen. Zwei Wochen lang, bis Mitte August, war in Aachen die Beschießung der Forts von Lüttich hörbar. Auch danach bestimmte der Krieg das Bild bis zum letzten Tag. Züge nach Westen brachten neue Einheiten, Material, Munition; Züge nach Osten luden Gefangene, Verwundete und Sterbende aus. Lazarette mit Tausenden von Betten wurden eingerichtet; die Tuchfabriken, das Hüttenwerk in Rothe Erde, die Nadelindustrie arbeiteten Heeresaufträge ab. Wie kaum eine andere deutsche Stadt war Aachen ein Nervenzentrum für die Front.

Noch fast euphorisch zählte das Schulprogramm von Ostern 1915 – laut dem das Deutsche Reich einem belgischen Überfall nur knapp zuvorgekommen war! – die Erlebnisse der bis dahin eingezogenen Lehrer und Abiturienten einzeln auf, mit denen in vielen Fällen eifrig korrespondiert wurde. Man stellte sich ein auf glanzvolle Siege, ein erträgliches Maß an Heldentod und natürlich schnellen Erfolg. Im Advent 1914 wurden im KKG wie anno 1870 Berge an „Liebesgaben“ für die Armee verpackt. Das Fehlen so vieler Lehrer, registrierte Direktor Scheins besorgt, führte allerdings zu „einer nie dagewesenen Unruhe“ bei der Unterrichtsverteilung.

Schon jetzt war der Krieg kein bloßes Aufsatzthema. Ende September organisierte die Stadt Aachen, der so etwas bisher viel zu preußisch gewesen war, paramilitärische Übungen, aus denen allmählich eine „Jugendwehr“ in Quasi-Uniform hervorging. Die Turnhalle in der Eilfschornsteinstraße war als Lebensmittellager beschlagnahmt; im November 1914 bot das Kriegsministerium an, Gefangene zu vermieten, damit die Schulen sich stattdessen Sportplätze bauen könnten. In ihrer Freizeit waren die Schüler aufgerufen, Metall zu sammeln. Schnell wurden Milchprodukte und Öl knapp, und da Millionen von Bauernpferden an der Front waren, bald auch das Brot. Die Mehrheit der KKG-Eltern zeichnete Kriegsanleihen und begann sich zu sorgen, wann der letzte Kaffee verbraucht sein würde.

 

Fettarme, ruhmreiche Zeiten

 

Reichlich gab es zunächst Feiertage: schulfrei am 18. Dezember 1914 „wegen des Sieges über die Russen in Polen!“, in Westgalizien. Ende Februar praktizierte derselbe Lehrer bereits ein wenig Heldenverehrung im Klassenbuch: frei „wegen des Sieges von Hindenburg“ bei der Winterschlacht in Masuren. Gleich nach der Siegesfeier begannen die schriftlichen Abiturprüfungen, denen meistens die Einberufung folgte.

Mitte März 1915 wurde das Brot rationiert – die Ära der Lebensmittelkarten begann. Wer Freunde und Verwandte in Vaals oder im Eupener Land hatte, konnte seine Rationen aufstocken; Aachens traditionelle Milch- und Butterlieferanten saßen hinter der belgischen Grenze im Herver Butterländchen und standen unter Militärverwaltung. Stattdessen wurden offiziell „fettlose Tage“ eingeführt. Bis Ostern 1915 waren zwei Lehrer gefallen und einer in Gefangenschaft, drei Abiturienten tot, einer vermisst und mehrere verwundet. Für die Geschichten der immer neuen Kriegsopfer auf den improvisierten Gedenktafeln – darunter Peter Wamich, an den das KKG in diesem Jahr erinnert – sank die patriotische Verwendbarkeit schnell. Neben der beschlagnahmten Turnhalle entstand ein „Kriegsgarten“ als Modell, wie sich die Ernährung aufbessern ließ – nicht lange, und die Schüler versuchten Essbares von dort nach Hause zu schmuggeln.

Im Juni und Juli 1915 gab es mehrmals hitzefrei („beneficiumcaloris“); am 4. Juni eine „Feier des Sieges in Galizien“. Am 3. August „wurde der behördl. Verfügung entsprechend auf die Bedeutung des Jahrtages der Mobilmachung hingewiesen“. Der 20. September war schulfrei, weil Wilna erobert worden war, am 21. Oktober beging Preußen das 500. Herrscherjubiläum der Hohenzollern, nur im Westen gab es nichts zu feiern. Ganz normale Klassenbucheinträge fehlen nicht: „Mainz singt während des Unterrichtes, offenbar mit bösem Willen.“

Was die Schüler als Pausenbrot mitbrachten oder wer irgendwann keins mehr hatte, ist nicht notiert worden, ebenso wenig, wer einen Familienangehörigen verlor. Am 24. September wurden drei Mitglieder der Obersekunda (11) B „wegen Erkältungsfiebers“ nach Hause entlassen. Die Obersekunda A ging am Samstag, dem 13. November die „griech[ischen] Altertümer im Ponttormuseum“ besichtigen, und am 26. und 27. Januar 1916 feierte man wie gewohnt zwei Tage lang den Geburtstag Wilhelms II. Am 6. März fehlten zwei Schüler der Obersekunda B: „Auswärtig! Plötzlicher Schneefall!“


Mobilgemachte Heimat


1916 gab es mehr „patriotische Feiertage“ als je zuvor: am 1. Mai wegen der Kapitulation des britischen Expeditionskorps im Irak, am 3. Juni wegen der als Sieg reklamierten Seeschlacht im Skagerrak, im Dezember gleich zweimal nach der Einnahme großer Teile Rumäniens, dazu einmal als Dank für die neueste Kriegsanleihe. Es gab für die Söhne und Brüder der Sieger fast nur noch gebrauchte, umgenähte Kleider, keine Schuhsohlen und kaum Seife, dafür Stoff aus Papierfasern, nicht wasserfeste Knöpfe aus Pappe – und die Sommerzeit, in der Hoffnung, Energie zu sparen. Der vermeintliche Seesieg änderte nichts an der alliierten Blockade– der Hunger wuchs. Im Juli 1916 öffnete dort, wo heute der Bushof ist, die städtische „Kriegsküche“ – unter den Tausenden, die dort auf Eintopf warteten, befanden sich mehr und mehr auch Bürgerfamilien. In den hungrigen Teenagermägen landeten während der Schlachten um Verdun und an der Somme Brot mit Sägemehlanteil, kleine Mengen Margarine und Süßstoff statt Zucker. Die Rationen der Väter und Brüder waren im Vergleich dazu ein Festessen. Dann verdarb die Kartoffelernte im Herbst 1916, und der Hungerwinter begann.

Die meisten, die an Unterernährung und Infektionen starben, waren arm, alt oder sehr jung. So erlebten die KKGer meist ‚nur‘ ungenießbare Hungerrationen, das Herumlaufen in Kleidern, die beim Waschen zu zerfallen drohten, das Warten auf Hamsterfahrten ihrer Eltern – also die generelle Verelendung. Von den Zehn- und Elfjährigen der Sexta (5) B fehlten im kalten Dezember 1916 täglich zwischen vier und zehn Jungen. Für Unfug war immerhin noch Energie da: „Holzmann hat während der Pause auf dem Schulhofe 10 seiner Mitschüler mit Juckpulver bestreut, so dass sie kaum dem Unterricht folgen können.“

Im strengen Winter 1916/17 wurden die Kohlen so knapp, dass das Militär vom 8. bis zum 18. Februar die Aachener Schulen komplett schloss; gefroren wurde zuhause mit Steckrüben, stinkendem Trockengemüse und der Hoffnung, im Frühjahr wieder Salat aus Brennnesseln machen zu können. Nach der Wiederöffnung der Schulen schrieb die Quarta (7) B einen Deutschaufsatz über „Das Friedensangebot unseres Kaisers“; hinter 19 der 30 Schülernamen der Unterprima – zwei Klassen, zusammengelegt zu einer – notierte der Klassenlehrer gleich die Entscheidungen der Musterungskommission. Im Juni 1917 gab es wieder hitzefrei, am 2. Oktober erstmals eine „Hindenburgfeier“, ein Zeichen, wie die tatsächliche Macht im Kaiserreich inzwischen verteilt war. Am nächsten Tag feierte man gleich noch den Erfolg am Isonzo gegen Italien – derart verwertbare Siege waren selten geworden.


Die Auflösung


Der März 1918 allerdings weckte noch einmal Hoffnungen: „Schulfrei aus Anlaß der erfolgreichen Siege in Rußland“, notierte etwas tautologisch der Klassenlehrer der Quinta (6) B am 5. März. Nicht lange nach dem Frieden von Brest-Litowsk begann die letzte große Offensive im Westen; statt Siegesmeldungen wurde im Juni „Kriegsanleihe-frei“ begangen. Für das Schuljahr 1918/19 wurden leere Seiten in älteren Klassenbüchern aufgebraucht, weil es schlicht keine neuen gab.

Stattdessen griff das Militär mit beiden Händen nach den älteren Schülern, als die Serie deutscher Niederlagen im Westen nicht mehr abriss. Von 26 Schülern der Unter- und 14 der Oberprima, die um Ostern 1918 das KKG besuchten, wurden bis zum September insgesamt 23 eingezogen. Für alle übrigen und den nächsten Rekrutierungsschub setzte man eine schriftliche Abiturprüfung Mitte September an, gut ein halbes Jahr zu früh. Eine der letzten staatlichen Ideen, mehr Geld aufzutreiben, war ein freier Tag am 12. Oktober 1918, an dem die Schüler Briefmarken sammelten. In einigen Klassen häuften sich zu dieser Zeit Krankheitsfälle: Allein die Quinta B hatte in der Woche ab dem 30. 9. erst acht, später 14-15. Danach sanken die Zahlen langsam wieder; von der Front war die Hauptwelle der Spanischen Grippe in Aachen angekommen. Erst am 15. Oktober schloss die Stadt alle Schulen bis zum 4. November – eindeutig zu spät.

Die Novemberrevolution, der Zerfall der Obrigkeit, das Kriegsende selbst spiegeln sich mit keiner Silbe in den Klassenbüchern. Der Kaiser floh, der Waffenstillstand trat in Kraft, aber der Unterricht ging weiter. Wochenlang marschierte die deutsche Armee auf dem Rückzug durch Aachen, gefolgt von französischen, dann belgischen Besatzungstruppen. Essen und alltägliche Waren blieben noch monatelang so knapp wie zuvor. Das besetzte Aachen mit seinen über 3200 Gefallenen – 80 Lehrer und ehemalige Schüler des KKG darunter – bekam die Niederlage besonders hart zu spüren – und hatte dennoch Glück gehabt: 1919 hätten massive Luftangriffe und das Näherkommen der Front gedroht. Stattdessen brach ‚nur‘ eine Welt zusammen. Nach der Lebensqualität verflüchtigte sich für die Schulkinder jetzt auch der Staat, der sie erzogen und zum Teil des Kriegsapparats gemacht hatte. Ihre Klassenzimmer zählten zu den wenigen Orten, wo das Leben so ähnlich wie vorher weiterzulaufen schien.