Die Revolution von 1848 hatte sich auch auf Aachens Straßen abgespielt; es gab Unruhen und Repressalien, begeisterte Erwartungen und am Ende die Enttäuschung des im Rheinland einflussreichen liberalen Bürgertums. Sein Verhältnis zum preußischen Staat blieb jahrzehntelang unterkühlt. Für eine Wiederannäherung sorgte indirekt die kirchennahe katholische Bevölkerung, bei der sich die aufgefrischte Angst vor einem Wertewandel mit der Abneigung gegen Preußen verband.
Der Katholizismus, der schon seit 1815 konservative Wege eingeschlagen hatte, erfand sich nach 1848 neu: als absolutistische Papstkirche unter herrischer Führung der Geistlichkeit, die sich mit der betont protestantischen Berliner Monarchie schwertat und den Laien in allen Lebensbereichen Vorschriften machte. Wirtschafts- und Beamteneliten fanden sich isoliert und in Religionsfragen angefeindet, abweichende katholische Stimmen hatten mit Ausgrenzung zu rechnen. Die neue Restaurationszeit war offen polarisiert, noch ehe Bismarcks Regierung methodisch die Gegensätze zwischen katholischem Zentrum, konservativen Protestanten und den in sich gespaltenen Liberalen schürte, um einen starken Staat über eine schwache Gesellschaft zu setzen, in der Verschwörungsängste umgingen – evangelisch-liberale vor Jesuiten, katholische vor Freimaurern und universelle vor Arbeitern und Sozialisten.
Das ‚Schlachtfeld‘ dieses Sich-Auseinanderlebens war auch die Schule. Der Anteil angehender Theologiestudenten unter den Abiturienten des Aachener Königlichen Gymnasiums stieg beträchtlich; die meisten davon vertraten mit ihren Familien den neuen, rigideren Ton. Sie bestimmten das Bild in den Klassenräumen des Augustinerklosters umso stärker, als sich auch die Schullandschaft der Industriestadt Aachen zu größerer Vielfalt entwickelte. Die Bildungswege zu kaufmännischen und technischen Berufen führten nicht mehr wie früher über einige Jahre am Gymnasium. Angehende Techniker besuchten seit den 1830ern die Provinzialgewerbeschule, die bis 1893 etappenweise zur Oberrealschule aufgewertet wurde, in der jetzigen Kármánstraße Quartier bezog und sich mathematisch-naturwissenschaftlich orientierte – wir kennen ihren Nachfolger als Couven-Gymnasium. 1835 war besonders für die künftigen Kaufleute eine Höhere Bürgerschule am Klosterplatz gegründet worden; stufenweise ging aus ihr bis 1882 ein Realgymnasium mit Schwerpunkt in den neueren Fremdsprachen hervor, Vorläufer des Rhein-Maas-Gymnasiums im Gebäude, das heute St. Leonhard nutzt. Nicht zuletzt nahm 1870 die Königliche Polytechnische Schule am Templergraben ihren Betrieb auf – die spätere RWTH war in ihren Anfangsjahren ausdrücklich auch für Nicht-Abiturienten gedacht.
Identitätsfragen und ein Markenname
Auf das humanistische Gymnasium angewiesen blieben also hauptsächlich die Honoratiorenberufe: Ärzte, Anwälte, einige angehende Universitätsdozenten und eben die künftigen Priester, die während der gut fünfzigjährigen Dienstzeit des Direktors Schoen bis 1867 das Selbstverständnis der Schule nachhaltig veränderten. Mit rund 400 Schülern in Schoens späten Amtsjahren waren die Klassenzimmer voller als früher, aber das Bevölkerungswachstum wirkte sich hier nicht mit ganzer Kraft aus. Anders der Wandel im geistigen Klima. Der Aachener Patriotismus während der Bismarckschen Einigungskriege war bestenfalls lauwarm und der innere Rückzug der katholischen Bevölkerungsmehrheit in ein geschlossenes System aus kirchlichen Vereinen längst im Gange, als das Papsttum 1870 – indirekt durch Preußens Krieg mit Frankreich – seine weltliche Macht verlor.
Etwa seit dieser Zeit fiel Aachen im Wettbewerb der Industriezentren allmählich zurück. Schlesien, das Ruhrgebiet und vor allem Berlin machten das Rennen. Den Mangel an großen Flüssen und Kanälen konnte Aachens Eisenbahnnetz nur mühsam ausgleichen, und auch das bloß solange, wie unter den europäischen Staaten Frieden und freier Warenaustausch herrschten. An der Wohnungsnot und am Armutsproblem änderte sich durch das verlangsamte Wachstum wenig.
Die antikatholischen Töne, die den Sieg über Frankreich begleiteten, trafen andererseits auf ein katholisches Gefühl, systematisch zurückgesetzt zu werden, in das sich der ‚ultramontane‘ Impuls mischte, fester und fragloser denn je hinter der Hierarchie zu stehen – das Ende des Kirchenstaats und das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit, eine Katastrophe für die moderaten Katholiken, waren praktisch zusammengefallen. Liberale und konservativ-evangelische Kreise, beide zusammen eine Minderheit in Aachen, reagierten bei all ihrem Gegensätzen gemeinschaftlich, nämlich ‚antiklerikal‘.
In dieser gespannten Lage wurde der Nationalliberale Stauder 1871-75 Direktor des Gymnasiums und führte es stramm-staatstreu. Auch andere Lehrer schlugen diesen Kurs ein – und liefen bei der Mehrheit auf. Schon 1872 sah sich ein Geschichtslehrer nach antikatholischen Tiraden einem Tumult seiner Abiturklasse gegenüber. Zwar stand man am Beginn des „Kulturkampfes“ um die Grenzen zwischen – und die konkurrierenden autoritären Ansprüche von – Kirche und Staat, aber die Bürokratie vertuschte den Zwischenfall, statt harte Maßnahmen zu verhängen, und ersetzte Stauder später durch einen staatstreuen Katholiken. Bald jedoch wurden politische Äußerungen in der Kirche unter Strafe gestellt, Priester verhaftet oder ins Ausland gedrängt und Orden aufgelöst.
Die Verfolgten waren an anderer Stelle ihrerseits Verfolger. Für Nichtkatholiken wurde die Schule, über deren Angelegenheiten das Domkapitel ja mitentschied, ein ungemütliches Pflaster – und blieb es, nachdem die Sozialdemokratie zum neuen Staatsfeind Nr. 1 avanciert war. 1881 hatten liberale Kreise des Aachener Bürgertums die Errichtung eines zweiten Gymnasiums beantragt; 1886 öffnete das „Kaiser-Wilhelm-Gymnasium“ seine Pforten. Die Kinder von Beamtenschaft, Militär und Industrie, aber auch die der jüdischen Gemeinde wechselten in Scharen an die neue Schule. Wilhelm I., „Kaiser Weißbart“, mit seiner oft bekundeten Meinung zum ‚Papismus‘ war kein Namenspatron, der für konfessionellen Ausgleich stand, und der Ton am heutigen Einhard-Gymnasium geriet reichlich preußisch. Die Konkurrenz reagierte umgehend. In ihrem Namen spiegelten sich die älteren Rechte und die Gleichsetzung mit der Stadt schlechthin ebenso wie der – seinerseits zeittypische – Verweis auf das ungleich größere (und als römisch-katholisch gedeutete) Kaisertum des Mittelalters gegenüber den Hohenzollern und dem Zeitgeist. In Opposition, wenigstens zu den Gründern des KWG, nannte man sich seit 1886 „Kaiser-Karls-Gymnasium“.
Eine dramatische Entwicklung folgte diesem Schritt. Bis 1899 verschwanden sämtliche nichtkatholischen Schüler aus der Statistik des älteren Hauses. Das KKG war fortan praktisch eine katholische Bekenntnisschule und sollte es über ein halbes Jahrhundert lang bleiben. Die Schülerzahl stieg aber trotz der getrennten Wege; Solidarisierungseffekte gegenüber den antikirchlichen Maßnahmen der 1870er Jahre mögen mitgespielt haben. Um attraktiv zu bleiben, aber auch wegen der schlichten Baufälligkeit des bald 300 Jahre alten Augustinerklosters, das relativ versteckt lag und durch eine kleinere Erweiterung kaum an Platz gewonnen hatte, brachte man wiederholt einen Neubau ins Gespräch. Aber die Stadt und erst recht die Regierung hatten es nicht eilig; die Lieblingskinder saßen woanders.
Aussöhnung und Ansehen: Statusgewinn in wilhelminischer Zeit
Ein gewisser Ausgleich vollzog sich in den 1890ern, unter dem sonst so polarisierenden Wilhelm II. Der junge Kaiser pflegte nationale, nicht mehr so sehr religiöse Gegensätze, schon weil ihn die Liberalen (Bismarcks Verbündete) weniger interessierten als „Weltgeltung“ und die Entfremdung der Arbeiter von der Sozialdemokratie. Eine Geste der Verständigung drängte sich förmlich auf: Das Karlsfest am 28. Januar lag seit 1889 in unmittelbarer Nähe von „Kaisers Geburtstag“ am 27., also ließen sich die Feierlichkeiten glücklich verbinden. Kaiser- und Kirchentreue wurden wieder zusammen erprobt und das Experiment, katholisch und patriotisch zu sein, begann. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges und darüber hinaus stand die Schülerschaft des KKG in Sachen Nationalismus nicht weit hinter den konkurrierenden Schulen oder anderen Städten zurück.
Die Kultusminister des Kaiserreichs verwöhnten ihre Gymnasiallehrer mit häufigen Professorentiteln und Orden. Die Schülerschaft präsentierte sich – trotz Schulgeld und bürgerlichen Ansprüchen – sozial nicht ganz so exklusiv, wie man denken könnte; auch ein kleiner Anteil Arbeiterkinder (mit Stipendien und großen Finanzsorgen) mischte sich unter die angehenden Akademiker, die sich in den letzten Jahren vor dem Abitur mit Primanermütze und schwarzem Anzug als Teil der besseren Gesellschaft präsentierten. Da die benachbarte Technische Hochschule keine ‚richtige‘ Universität mit allen klassischen Fächern war, konnte das KKG sich auf geisteswissenschaftlicher Ebene als ein Zentrum für die gesamte städtische Bildungslandschaft fühlen; das Kollegium schrieb gelehrte Abhandlungen und hatte Zeit genug, wissenschaftlichen Interessen nachzugehen: zwischen Schulen und Universität waren die Verbindungen ohnehin in beiden Richtungen enger als heute.
Direktor Martin Scheins, aktiv als Lokalhistoriker und Lobbyist, fand bei den Aachener Honoratioren mehr Gehör und Unterstützung als seine Vorgänger. Die Stadtväter waren inzwischen zu großen Teilen zentrumsnah, jedenfalls überwiegend ‚gut katholisch‘ statt wie früher liberal. Das änderte die Situation entscheidend, als die Schülerzahlen von 1898 (466) bis 1901 (601) förmlich explodierten. Ein Neubau war unvermeidlich. Man griff tief in die Tasche und entschied sich, an alter Stelle nicht bloß ein Haus in passender Größe, sondern etwas Repräsentatives zu errichten.