Die Lage des KKG in einer Stadt, die Anfang der 1990er fürchtete, Arbeitsplätze an die neuen Bundesländer zu verlieren und durch den Hauptstadtumzug nach Berlin aus dem Blickwinkel für Investitionen zu geraten, war unsicher geworden und wurde als Lebensgefahr empfunden. Die Schülerzahlen schrumpften, den akademisch geprägten Familien kam das reduzierte altsprachliche Programm mehrheitlich verstaubt vor (Latein wurde im RWTH-Umfeld nun als Gegenprogramm zur Dominanz der Technik verstanden), einer Minderheit umgekehrt viel zu modern. Versuche, ein neues Schulprofil einzuführen, waren am Widerstand in den Elternvertretungen und einer einflussreichen Lehrerfraktion gescheitert, den konservative Ehemalige massiv unterstützten. In Teilen des SPD-geführten Stadtrats gab es den ausgesprochenen Wunsch, mit dem ‚ältesten Haus am Platz‘ ein Symbol elitärer Bildung zu beerdigen– hier trafen zwei lang gepflegte Feindbilder aufeinander, und noch das Grußwort der Kultusministerin hielt sich im Jubiläumsjahr 2001 länger bei der Warnung vor Rückwärtsgewandtheit auf als beim Gratulieren. Weil ganz Aachen fest davon ausging, die sinkende Geburtenrate müsse zur Schließung von ein bis zwei Gymnasien führen, war das KKG nun auf mehreren Feldern angreifbar.
Es war kein Zufall, dass als neuer Direktor jemand ausgesucht wurde, der Neusprachler war, frisch von der Schulaufsicht kam und nicht zum konservativen Lager zählte – umgehend verbreiteten sich Gerüchte, Paul-Wolfgang Jaegers habe den Auftrag in der Tasche, das Gymnasium zu schließen oder in eine Gesamtschule umzuwandeln. Der vermeintliche Agent des Klassenkampfes hatte dafür am Ende ganze 21 Jahre Zeit (1993-2014), erwies sich aber eher als Anhänger der Meinungs- und Ideenvielfalt, der Projekte der vergangenen Krisenjahre fortführte und neue ausprobierte. Die härtesten Kämpfe hatte sein Vorgänger ihm bereits abgenommen. Wachsender Geschmack an der neuen Diskussionskultur und die klare Sprache der Anmeldestatistik halfen bei vielen der Einsicht nach, dass es ohne Veränderungen nicht mehr ging.
Viele Abschiede
Bei vielen, aber lange nicht bei allen – der aufgeräumte Tonfall eines Direktors, der anderen zuhörte, Entwicklungen geräuscharm vorantrieb, die wachsende Zahl ministerieller Vorgaben als Naturereignisse hinnahm und in der Lage war, sich und das KKG mit einer gewissen Selbstironie zu behandeln, polarisierte. Das Gegenmodell eines würdig-ernsten Patriarchen, autoritativ und bei Bedarf autoritär, der inmitten aller Umbrüche geordnete Sicherheit versprach, behielt seine Strahlkraft weit über den Tod Johannes Helmraths 1999 hinaus. Ein harter Kern aus ehemaligen Schülern fühlte sich durch das Ende der scheinbaren Unveränderlichkeit regelrecht um „ihre“ Schule betrogen und zog sich vom real existierenden KKG weit zurück; noch viel verbreiteter war der nostalgische Rückblick aus sicherem Abstand.
Tatsächlich lösten sich wesentliche Elemente der langlebigen Schulkultur, die bis ins Kaiserreich zurückgingen, jetzt schnell auf oder wechselten ihre Funktion. Mit den ersten Abiturientinnen der frühen 1980er verlor der Kreis der Ehemaligen seinen Charakter als Männerbund, während sein Anteil an den sozialen Spitzenpositionen der Region bereits vorher zurückging. Das Kontakthalten über das Abitur hinaus wurde mehr und mehr privat organisiert, nicht auf Vereinsebene. Damit verwandelte sich die letzte und historisch wichtigste Gruppe, die die Ziele der jeweiligen KKG-Leitung unterstützt hatte, in ein ganz normales Reservoir potentieller StayFriends-Kundschaft. Nicht zufällig änderte sich auch, wie die Schule das Karlsfest feierte. Ab 1999 wurde aus der traditionellen Messe im Dom – mit rückläufigem Besuch – ein ökumenischer Gottesdienst, während der evangelische Anteil der Schule sonst am Vorabend in der Annakirche gefeiert hatte. In der ‚weltlichen‘ Portion des Festprogramms im Audimax verschwand noch früher der staatstragende Anfangsteil, die grundsatz- und bildungspolitische Rede, und der neue Schulleiter fand nichts dabei, sich nach einer tendenziell launigen Begrüßung am Unterhaltungsprogramm zu beteiligen Solistenrollen. Die Gelegenheit zur Selbstüberhöhung mied Jaegers, der zur Schultradition aus Sorge vor Traditionalismus ein sehr gebrochenes Verhältnis pflegte, konsequent: Unter seinem Einfluss verwandelten sich die Jahresmitteilungen des Ehemaligenvereins, bis dahin „KKG-Info“, ab 1995 ins „Forum“, das sich rasch von den Rubriken neuer und verstorbener Vereinsmitglieder verabschiedete und nicht länger Sprachrohr des Direktors war, dafür aber Schülerinnen und Schüler zu Wort kommen ließ – anfangs inklusive Witzseite.
Die Kursänderung im Profil des KKG war in jedem Fall riskant. Reduziert worden war die altsprachliche Ausrichtung längst, jetzt wurde sie durch den Niederlandisten Jaegers ausdrücklich zu einem generellen Sprachenschwerpunkt verändert. Daneben stand aber sehr bald die Stärkung dessen, was erst im neuen Jahrtausend das Etikett „MINT-Fächer“ erhielt – aus der klaren Überlegung, dass ein Gymnasium in nächster Nähe einer technischen Universität hier Angebote machen musste. Klassisches Griechisch war auch in der Oberstufe praktisch nicht mehr möglich. Beibehalten wurde die Möglichkeit zum Lateinunterricht ab Klasse 5, doch die Anmeldezahlen für ihn sanken weiter; das Unterrichtsangebot auf Neugriechisch überlebte nicht lange, ebenso wie einige der nach dem Ende des Kalten Kriegs aufgebauten Schulpartnerschaften. Gleich zwei Hauptausrichtungen der Schule zu definieren war in dieser Zeit untypisch – im Trend lag die Einrichtung bilingualer Zweige mit Fachunterricht in der jeweiligen Fremdsprache, doch war die ‚Konkurrenz‘ in den kritischen Jahren schneller gewesen und die Genehmigung für ein weiteres Gymnasium war wegen ‚Übersättigung‘ unwahrscheinlich. In ungebremst autozentrierten Zeiten blieb auch die Innenstadtlage das Problem, das sie seit den 1960ern gewesen war.
Viele Ideen
Doch der Balanceakt gelang. Langsam, dann schneller füllte sich das Lehrerzimmer wieder, deutlich rascher stabilisierten sich die Schülerzahlen, stiegen dann markant und überschritten 1998 wieder die Gesamtzahl von 800. Im KKG wurde es künftig deutlich lauter – einmal der größeren Zahlen wegen, zweitens wegen des veränderten Umgangstons und Schulklimas. Wie das Angebot war es offensichtlich einladend, zog neue Familien an und verzichtete insbesondere auf jene Behandlung, die die meisten Kinder mit Migrationshintergrund und von Eltern ohne eigenes Abitur früher aussortiert oder gleich abgeschreckt hatte. Fragen wie die mögliche Einrichtung eines Gebetsraums oder islamischen Religionsunterrichts kamen auf. Mehr diplomatisches Feingefühl nach außen hin trug dazu bei, dass die Existenzangst verflog. Mit der Eröffnung der 3. Gesamtschule im Frankenberger Viertel zog diese Schulform nach der Jahrtausendwende zwar 25% der Kinder auf Aachens weiterführenden Schulen an… doch die Gymnasien kamen zusammen auf etwas mehr als 50 und die Abiturientenquote stieg weiter, begleitet von hitzigen Diskussionen um die Wünsche der Wirtschaft und Industrie, soziale Chancen und sinkende Standards. Auf längere Sicht drohte aber immer noch der demographische Wandel.
In vielen Punkten erfand sich das KKG der 1990er mit großen Anstrengungen neu. Eine Umbau- und Renovierungswelle, die 1998 fast die ganze Schule auf dem Kopf stellte, passte gut zur allgemeinen Stimmung – ebenso die Atmosphäre der Vierhundertjahrfeier 2001. So jung war der Altersdurchschnitt der Schule selten gewesen; die Festschrift zeigte nicht mehr akademische Ansprüche in Fachaufsätzen vor, sondern wurde fast wie ein Jahrbuch zur Momentaufnahme mit Kurs- und Klassenfotos, wo 1976 ausschließlich das Kollegium Bildrechte gehabt hatte. Ungewollt symbolisch wurde der Festvortrag im Krönungssaal des Rathauses zum Wettlauf gegen die Zeit, weil draußen auf dem Markt jeden Moment die Scorpions mit dem Aufwärmen für ihr Konzert zu beginnen drohten– aber wie das Comeback der Schule kam auch die Feier rechtzeitig über die Ziellinie.
Wie bei jeder Modernisierung gab es spürbare Verluste. Ein beachtlicher Teil der ‚alten Kundschaft‘ gab ihre Kinder nun lieber auf die kirchlichen Privatschulen mit ‚behüteter‘, homogenerer Atmosphäre. 2003 hatte das sinkende Interesse an Latein den kritischen Punkt erreicht und die letzte (kleine) Klasse mit dieser ersten Fremdsprache wurde gebildet – der Abschluss des langen Abschieds von der altsprachlichen Schulform, der 1964 begonnen hatte. Umgekehrt besaß das KKG nach mehreren Anläufen, das Internet über den Informatikunterricht hinaus zu besiedeln, ab 2002 eine dauerhaft funktionierende Homepage; im selben Jahr mutierte der Alte Musiksaal, seit der Nachkriegszeit beinahe ein „Lost Place“ hinter tristen Betonfenstern, zum Theaterraum mit wachsender Sogwirkung auf das Kulturleben der Schule.
Einen Einschnitt für den Alltag brachte 2005 ein lebensgefährlicher Unfall des Schulleiters, der monatelange Improvisation verlangte und auch nach Jaegers’ Genesung Spuren an seiner Vitalität hinterließ. Im gleichen Jahr ging aus den Landtagswahlen eine schwarz-gelbe Koalition hervor, die die SPD zum ersten Mal seit 1966 aus der Regierung drängte und ganz andere bildungspolitische Vorstellungen mitbrachte.