Je näher Geschichtsschreibung der Gegenwart kommt, desto komplizierter wird – was man eigentlich nicht erwartet – ihre Aufgabe. Sie weiß noch nicht, wie es anschließend ‚weitergeht‘, sie hat sich nicht lange genug nach den Quellen umschauen können (denn die sind weit verstreut), und mit etwas Pech verpasst sie Einzelheiten oder Entwicklungen, die auf längere Sicht zum eigentlich Wichtigen gehören. Ergänzen, neue Fragen stellen und ausbalancieren müssen dann später andere: Geschichte ist Teamarbeit mit langem Atem.
Die Zeit dramatischer Veränderungen für das KKG in Form großer Neu- und Umbauten war auf absehbare Zeit vorbei, weil die Aachener Stadtfinanzen ebenso ungünstig für große Sprünge waren wie die Lage in der dicht bebauten Innenstadt. ‚Einschneidend‘ in diesem Sinn war höchstens die Eröffnung der langerwarteten Mensa im September 2009. Wandel im Kleinen vollzog sich wie immer, indem etwa das Feuchtbiotop der 1980er vom Wäldchen-Hof verschwand und umgekehrt die lang verschollene Inschrift des Jesuitenkollegs als Signal der (nicht ganz) kontinuierlichen Schulgeschichte einen neuen Platz auf dem Quadrum fand.
Zu kostbar, um an Geld zu denken
Fehlender Baulärm und die ‚neue Normalität‘ permanent geänderter Vorschriften haben viele kaum spüren lassen, dass in den „Nullerjahren“ die größten Umbrüche seit den 1960ern und 70ern auf die Gymnasien Nordrhein-Westfalens zukamen. Parteiübergreifend bestand Konsens, an alle Schulformen im Zweifel lieber die Anforderungen als die Geldzuweisungen zu erhöhen. Nach den Jahrzehnten ausgebauter Differenzierungen und Wahlmöglichkeiten wurde stärker auf ein Kernprogramm gesetzt – einmal, weil es weniger Lehrerstellen und Raumbedarf kostete, zum anderen wegen der Anzeichen für einen generellen Leistungsrückgang in Kernkompetenzen wie Rechnen oder Lesevermögen. Was in einer konservativen Sicht als „Kulturverfall“ beklagt worden wäre, alarmierte nun unter den Vorzeichen der Ökonomie: Das Aufstellen und immer dichtere Kontrollieren von Standards sollte, wie ausdrücklich erklärt wurde, den unvermeidlich zitierten „Wirtschaftsstandorts Deutschland“ sichern, für den Bildung ähnlich oft als „wichtigster“ oder gar „einziger Rohstoff“ gerühmt wurde.
Die Gewinnungskosten dieses Rohstoffs wurden jedoch gedeckelt – in einer betriebswirtschaftlich religiösen Ära ein Indiz, was er wert war. Da fest mit einem Rückgang der Schülerzahlen im Zug des demographischen Wandels gerechnet wurde, kürzte man vorab im Stellenplan und setzte wie so oft die erlaubte Klassengröße hoch. Ziemlich genau um 2005 griff nicht nur die Einengung der Fächerwahl für die Oberstufe, sondern auch die Heraufsetzung der Mindestzahlen pro Kurs, um das Angebot aktiv einzuengen; weniger Begründungsdruck hatten die schrittweise gestärkten MINT-Fächer als Garanten zukünftiger technischer Überlegenheit.
Parallel hatten weniger Lehrerinnen (mit der Verschlechterung der Arbeitsbedingungen sank der Männeranteil im Beruf sichtbar) für größere Lerngruppen laut Vorgabe eine Differenzierung nach individuellen Lernbedürfnissen zu leisten, womit man je nach aktueller Studie mal Finnland, mal Singapur einzuholen wünschte. Abseits von Projektschulen gelangten Stellen für Sozialarbeit, Psychologie und Verwaltung (bei exponentiell steigendem Bürokratieaufwand) nur tröpfchenweise in die Bildungslandschaft von NRW. Auch während der rot-grünen Landesregierung 2010-2017 war der Ausbau der Gesamtschulen praktisch beendet (in Aachen mit dem Start der 4. Gesamtschule 2011); sie waren zum Ersatz für die rasch austrocknenden Haupt- und Realschulen geworden, außerdem teuer in der Gründung. Die Nachfrage nach ihnen stieg nicht mehr so hoch wie erwartet – durcheinander kam die Schulplanung schon deshalb, weil von jedem Geburtsjahrgang schon 2014 in Aachen 57% an Gymnasien wechselten und die Quote später über 60% stieg.
Damit war die Dauerdebatte, welches Aachener Gymnasium bald schließen müsse, beendet. Ein städtisches Entwicklungsgutachten von 2006 hatte dem KKG mittelfristig nur noch eine Gesamtstärke von 600 zugetraut; die realen Zahlen lagen in den Folgejahren bei 820-840, die Neuanmeldungen sprangen wiederholt auf 110 und Ende der 2010er auf nahe 120 – was in neun Jahren eine Schule mit 1000 oder mehr Kindern und Jugendlichen ergeben hätte. Nicht so sehr das „Fluchtjahr“ 2015 wirkte sich hier aus; reguläre wie krisenbedingte Migration steigerten vor allem die Besuchszahlen jenseits der Gymnasien. Der Anstieg traf aber auf behördlich überfüllte Klassen und ein Lehrerkollegium, das rechnerisch den Unterricht gerade noch abdecken konnte, solange niemand krank oder schwanger wurde oder sich fortbildete (wobei Innovationsfreude auf Industrieniveau, nur nicht zu Industriegehältern, fest erwartet wurde).
Unter Stress arbeitet man am besten
Der Schulalltag veränderte sich in dieser Zeit dramatisch. Digitale Lern- und Lehrmethoden durchbrachen die Grenzen des Informatikunterrichts, der Besitz internetfähiger Privatgeräte wurde rasch zur stillschweigenden Erwartung an die Schülerseite, deren Sozialleben sie sowieso veränderten. In Zeiten steigender Berufsmobilität wurden auch Umzüge immer häufiger. Schulministerium und obere Behörden halfen durch Aufrufe, mehr Flexibilität zu zeigen, und die Einführung neuer Dokumentationspflichten. Aus der ganzen Gesellschaft nahmen die –schon traditionellen – Erwartungen an die Schule, soziale und familiäre (Fehl-)Funktionen aufzufangen, rapide zu. Besonders auffällig war der kollektive Geiz der Öffentlichkeit rund um das Projekt der Inklusion. Die Initiative, die in Deutschland allzu lange geübte „Wegsperrmentalität“ an den Sonder-, dann Förderschulen zu durchbrechen, verkam in der Praxis zu einem Sparprogramm an Personalstellen und Gebäudekosten. Kritik daran, wie die Schüler und Schulen weithin sich selbst überlassen waren, wurde systematisch verteufelt.
Mit der Standardisierung kamen ab 2007 koordinierte ‚Großveranstaltungen‘ dazu: das Zentralabitur für Gymnasien (die Gesamtschulen bekommen bis heute eigene, leichtere Abituraufgaben), die Vergleichsarbeiten in der Klasse 8, die im Jargon als „ZP 10“ bekannten landesweiten Prüfungen an der Schwelle zur Oberstufe. Die Einführung schriftlicher Facharbeiten als Vorübung für die Hochschule und mündlicher Präsentationsprüfungen erhöhte den Aufwand nicht nur auf Lehrerseite zusätzlich. Um es etwas sportlicher zu machen, kam inmitten dieser Umbrüche 2008 der tiefste von allen: der Umstieg zur achtjährigen Gymnasialzeit.
Ähnlich wie im Fall der universitären Bologna-Reform hatten die großen Wirtschaftsverbände darauf gedrängt, jüngere Arbeitskräfte zu bekommen… und auch hier waren sie die ersten, die über das völlig absehbare Ergebnis klagten, dass sich Wissen und Methoden aus neun Schuljahren nicht einfach in acht unterbringen ließen. Statt die (zur Hälfte als Wiederholung gedachte) Jahrgangsstufe 11 zu streichen, verzichtete Nordrhein-Westfalen auf die Inhalte der (anspruchsvollen) Klasse 10. Der Jahre früher einsetzende Nachmittagsunterricht machte aus Halbtagsgymnasien wie dem KKG – der großen Mehrheit – Dreiviertel-Ganztagsschulen; wie sie Angebote schufen, nachmittags bei den Hausaufgaben oder schlicht beim Sattwerden zu helfen, überließ die Ministerialbürokratie weitgehend dem lokalen Erfindungsreichtum. Nicht so interessant schien ihr auch das Aufnahmevermögen (oder der Lebensbedarf) Jugendlicher zu sein. Man zitterte zu Recht vor dem Jahr des Grauens 2013, als die übliche Raum- und Personalnot zur Abiturzeit durch den Doppeljahrgang extrem wurde (und die Überfüllung an den ähnlich unterfinanzierten Hochschulen weiterging).
Lebenswichtig blieb daneben, zusätzliches Engagement durch Extraqualifikationen (samt viel Extraarbeit) nachzuweisen, wie es höheren Orts schlicht erwartet wurde. Die 2010er waren in jeder Schule eine Zeit forcierten Plakettensammelns im Eingangsbereich – dahinter standen persönliche Kraftakte, weil alles zertifiziert, evaluiert, validiert zu sein hatte. Das KKG wurde MINT-EC-Schule, 2017 auch Europaschule und führte im selben Jahr die englisch-bilinguale Option ein, die in den 1990ern noch am Widerstand mehrerer Seiten gescheitert war. Daneben blieb Zeit und Kraft für erstaunlich viele freiwillige Angebote, von den zahlreichen Arbeitsgemeinschaften bis hin zum Literarischen Quartett. Wie viel Sozialleben auch nach Unterrichtsende am Augustinerbach herrschte, war eine geradezu begeisternde Veränderung gegenüber früheren Jahrzehnten.
Die Themen des Tagesgeschehens wirkten in dieser Zeit eher gedämpft ein. Seit ab 2010 das Thema sexualisierter Gewalt in Institutionen und Organisationen ins öffentliche Bewusstsein drang, wurden Anti-Missbrauchs- und Präventionsbelehrungen Pflicht. Unverschuldet still blieb es rund um den 1200. Todestag Karls des Großen 2014; das Domkapitel war derart entschlossen, das Festgeschehen zu kontrollieren, dass die Kooperationsangebote des KKG und aus der ganzen Stadt schlicht liegenblieben.
Erfreulich unspektakulär ging es dagegen in anderen Fällen zu. Weder die anhaltenden Handicaps des Schulleiters nach einem schweren Unfall noch der Ruhestand von Paul-Wolfgang Jaegers 2014 lösten jene Machtkämpfe und Animositäten aus, die andere Übergangssituationen geprägt hatten. In dieser Hinsicht war man ein beachtliches Stück reifer geworden, als mit Jürgen Bertram der erste „gelernte“ KKGer seit einem halben Jahrhundert die Leitung übernahm.