Ein neues Gesicht
Die 1980er Jahre brachten in den deutschen Kultusministerien – nicht nur in Düsseldorf – den Anfang einer neuen Führungs- und Planungsweise, die sich bis heute nur noch forciert hat. Die Dichte der Neuregelungen und Interventionen wuchs sprunghaft; von nun an verlief buchstäblich kein Schuljahr mehr nach genau denselben Regeln wie das letzte. Eine Schule wie das KKG, die sich in den letzten Jahrzehnten eine ausgeprägte Anti-Haltung gegenüber Veränderungen jeder Art zugelegt hatte, bot sich gefährlich gut als Feindbild für diesen Stil der Schulpolitik an, der (auf seine Weise ebenso doktrinär) ständige Innovation als Selbstzweck ansah… und zwar, wie sich später zeigen sollte, über klassische Parteigrenzen und -stile hinweg.
Der Wechsel in der Schulleitung bot eine Chance, sich der neuen Situation zu stellen – und sie wurde ergriffen, allerdings behindert durch heftige Widerstände bei Lehrern und Elternschaft. Lange vor der Kommunalwahl 1989, mit der die ungebrochene Dominanz der CDU in der Aachener Politik endete, machten sich außerdem erste Intimfeinde im Stadtrat bemerkbar, die im KKG den Inbegriff rückständiger, elitärer Arroganz sahen und genüsslich vorrechneten, dass man angesichts der sinkenden Geburtenzahlen bald schon ein Gymnasium zu viel haben werde.
Als Nachfolger Johannes Helmraths wählte Elmar Bach, sobald er 1983 ins Amt kam, einen völlig anderen Führungsstil. Besonders die Altsprachler, die im Kollegium den Ton angaben, hatten wie selbstverständlich einen neuen Direktor aus ihren Reihen erwartet und waren nachhaltig verstimmt, einen Germanisten und Historiker aus dem ‚fernen‘ Rheinbach „vor die Nase gesetzt“ zu bekommen. Völlig fremd war nach den langen Jahren einer klaren, oft demonstrierten Hackordnung der konziliant-diplomatische Stil des Neuen… der sehr genau die Anforderungen der Gegenwart an die Rolle eines Schulleiters erkannt hatte. Ein Vermittler und Übersetzer zwischen den völlig anderen Denkweisen von Ministerien, lokalen Schulbehörden, örtlicher Politik, Lehrern, Elternschaft und natürlich Schülerinnen und Schülern war unerlässlich… doch er war eben kein „Zeus“, Zuchtmeister und Übervater im gewohnten Format. In einem Milieu, wo es bisher – nicht nur bei den ‚Staatsakten‘ zum Karlsfest – nostalgisch-patriarchal bis autoritär zugegangen war, verwechselten viele Dialogbereitschaft und Zuhören mit Schwäche. Teils aus Selbstwertgefühl, teils um bessere Angebote herauszuholen, probierten es die unterschiedlichsten Gruppen instinktiv mit Zögern, taktischem Abwarten oder glatter Verweigerung.
Schullandschaft im Umbruch
Das vor 1983 gültige Versprechen, immer so weiterzumachen wie bisher, hatte auch jetzt noch seinen Reiz; die Einweihung der Aula Carolina, des letzten erfolgreichen Erweiterungsprojekts aus der Ära Helmrath, konnte diese Hoffnungen bestätigen. Bachs eigene Absicht war es, das altsprachliche Profil der Schule zu erhalten und zukunftssicher zu machen. Als einziges Angebot würde das nicht mehr lange möglich sein. Die Anmeldezahlen entsprachen inzwischen einem Meinungswandel bei der gymnasialen ‚Kundschaft‘, von Latein und Griechisch als (wünschenswert) „schweren Sprachen“ hin zu „toten Sprachen“ ohne praktische Verwendung. Überdurchschnittlich stark zeigte sich das im Umfeld der – stark expandierenden – RWTH; in Zeiten sinkender Kinderzahlen und wachsender Mobilität schrumpfte umgekehrt die KKG-typische Gruppe von Familien, deren Kinder über Generationen auf dieselbe Schule gingen. Angehende Theologiestudenten, früher eine weitere feste Größe, fanden sich fast nur noch auf dem rivalisierenden Pius-Gymnasium mit seiner engen Bindung ans Bistum.
Mehrere Faktoren kamen hinzu. Die Anfänge der schulischen Profilbildung neuen Typs wurden spürbar– erst in Form bilingualer Unterrichtsangebote in modernen Sprachen, einige Jahre später als stark kompetitives Erarbeiten möglichst vieler Zertifikate und Zusatzprädikate, die uns heute als Plakettensammlung am Eingang der meisten Schulgebäude selbstverständlich vorkommen. Von den MINT-Fächern war noch selten die Rede, doch für ein Auslandssemester oder ein Au-pair-Jahr waren neun Jahre Latein nur indirekt hilfreich. Bachs vorausschauende Bemühungen, rechtzeitig einen bilingualen Zweig am KKG durchzusetzen (von denen pro Stadt nur begrenzt viele genehmigt wurden), scheiterten bereits in der Frühphase am schulinternen Widerstand. Mit über 900 Kindern und Jugendlichen in den Klassen und Kursen, so vielen wie nie, war es leicht, die Zukunft als gesichert zu betrachten und sich völlig auf das bisherige Rezept zu verlassen.
Mitte der 80er Jahre stagnierten die Anmeldezahlen jedoch, dann begannen sie zu sinken. 1986 startete die erste Aachener Gesamtschule, bald gefolgt von der zweiten in Brand. Nun wurde in Politik und Medien sehr explizit die nahe Schließung eines Gymnasiums prognostiziert; dass das Gesamtschulangebot vorwiegend die Real- und Hauptschulen treffen werde, war damals nicht abzusehen, die Zuweisung großer Teile der freien Gelder im Kultusbereich von Land und Kommune dagegen eindeutig – während die Investitionen in öffentliche Schulen insgesamt zurückgingen. Aachen selbst kämpfte ohnehin weiter mit den sozialen und finanziellen Folgen der Entindustrialisierung und hatte weniger Geld auszugeben; erste Spin-off-Gründungen im Umfeld der RWTH schufen neue Berufschancen, nicht aber für die vielen, die sich hinter der hohen „Sockelarbeitslosigkeit“ verbargen. Die Steigerung der Abiturientenquote pro Geburtenjahrgang war ein erklärtes Landesziel, die Gesamtschule das dafür vorgesehene Mittel, das von den Gymnasien durch moderne Ausstattung, ein Ganztagsangebot mit Verpflegung und (was nie offen zugegeben wurde) geringere Anforderungen in Oberstufe und Abitur einen erheblichen Teil der Klientel übernehmen sollte.
Im Sinkflug
Das Zeitfenster für eine bilinguale Ausrichtung hatte sich inzwischen geschlossen. Neue Vorgaben der Kultusministerkonferenz und des Schulministeriums schränkten die Fächerauswahl der differenzierten Oberstufe massiv ein und verordneten höhere Mindestgrößen in Klassen und Kursen – beides, um Lehrerstellen einzusparen, und nur die ersten Maßnahmen ihrer Art. Das Elite-Argument lockte kaum noch Eltern an, da die entsprechend Denkenden immer stärker auf Privatschulen oder gleich Internate auswichen; angesichts der steigenden Konkurrenz um den Weg zum Abitur warben gerade kirchliche Stellen in dieser Zeit stärker denn je für das Pius-Gymnasium, um dessen Existenz sicherzustellen. Lobbyarbeit über die Unterstützung von KKG-Ehemaligen, früher ein alltägliches Phänomen, fand umgekehrt kaum noch statt. Die traditionell enge Bindung der Abiturjahrgänge an die Schule lockerte sich spürbar (wozu die differenzierte Oberstufe mit der früheren Auflösung der Klassenverbände beitrug). Bei den Ehemaligentreffen, jetzt in der Aula, bröckelten die letzten Reste einer Honoratiorenveranstaltung weg; ein, zwei Jahre lang ging die Blaskapelle, die Studentenlieder spielte, im Lärm Hunderter Gespräche unter, dann verschwand sie aus dem Programm. (Bis modernere Musikangebote einzogen, dauerte es etwas länger.)
Der Wechsel von einer randvollen Schule zum Existenzkampf hatte sich angekündigt, vollzog sich dann aber unerwartet dramatisch: 1988 gab es kaum noch genug Neuanmeldungen für zwei fünfte Klassen. Letzte Ausläufer des Griechischangebots wurden bis zum Ende des Jahrzehnts aufrechterhalten, dann in ein neugriechisches „Griechisch für Griechen“ umgeformt – das erste aktive Werben der Schule um Kinder mit Migrationsgeschichte, die mancher Lehrer noch Jahre zuvor aktiv ‚ausgesiebt‘ hatte, soweit es an ihm lag. Für einen kontrollierten Wechsel im Schulprofil war es vorläufig zu spät; Bach leitete Soforthilfemaßnahmen ein, die jetzt – um einen späteren Begriff zu verwenden – offenkundig alternativlos waren; sachlich konnte man ihm nicht widersprechen, Ressentiments gab es deswegen reichlich. Ab dem Schuljahr 1991/92 begann nur noch je eine Klasse mit Latein statt Englisch als erster Fremdsprache, was zu genug Anmeldungen für drei neue Klassen führte. Damit war dank der Blockadepolitik zu vieler Beteiligter vom altsprachlichen Profil viel weniger übriggeblieben, als ein überlegter Profilwechsel es erlaubt hätte.
Zum Ende des Schuljahres verließ Bach das KKG und übernahm die Verantwortung für die kirchlichen Schulen im Bistum Trier. Angesichts der Widerstände gegen jede Veränderung und der aus der Ära Helmrath ererbten Feindschaft ausgerechnet mit dem kultur- und schulpolitisch maßgeblichen Teil der SPD-Ratsfraktion waren die Erfolge, die er bei der Schadensbegrenzung und vorläufigen Existenzsicherung erzielt hatte, mehr als beachtlich. Die zahlreichen Chancen der vergangenen neun Jahre hatte gerade nicht er verpasst. Unbeantwortet blieb die Frage, wie und auf welcher Basis es überhaupt weitergehen konnte. Allein das Lehrerkollegium hatte durch Pensionierung und Wegversetzungen ein Drittel seiner Stellen eingebüßt. Mit mehr Applaus denn je wurden bei Schulfesten in diesen Jahren die Auftritte Helmraths als Personifikation eines – eindeutig vergangenen – Goldenen Zeitalters begrüßt.