1972 war für das KKG und seinen Direktor Johannes Helmrath, mit dem es nach außen wie innen zunehmend identifiziert wurde, der Beginn einer neuen Epoche: Die Bauarbeiten zur zweiten Erweiterung der Schule begannen und die ersten Mädchen wurden eingeschult. Beides entwickelte sich anders als gedacht. Helmrath hatte jahrelang für den Ausbau gearbeitet, der moderne Räume für Naturwissenschaften, ein Sprachlabor (damals als didaktische Superwaffe gehandelt) und – in der Konkurrenz zu den weitläufig gebauten Gymnasien in den Vororten – endlich auch eine Turnhalle brachte; gleichzeitig wurden Kriegsschäden am Altbau beseitigt, eine neue Etage mit Kunsträumen zwischen den Höfen aufgesetzt… und die bestehende Toilette (ein Ort des Grauens mit einer verschrammten Holzkabine pro Jahrgang) möglichst diskret durch zwei neue, nach Geschlechtern getrennte abgelöst. Erst mit den neuen Räumen konnte das KKG drei Klassen in jedem Jahrgang bilden. Was nicht so laut gesagt wurde: Man hatte auf einen deutlich größeren Erweiterungsbau gehofft, aber weder der Rückhalt bei Oberbürgermeister und CDU-dominiertem Stadtrat noch die Verkaufsbereitschaft der Nachbarn hatten das hergegeben. Für 900 oder gar 1000 Schüler würde es bedrohlich eng werden.
Diese Zahlen aber mussten die Direktion und ihre Unterstützer anvisieren, um in der neuen Schullandschaft mithalten zu können. Ebenfalls 1972 begann nach den Vorgaben der Kultusministerkonferenz die allmähliche Einführung der differenzierten Oberstufe, die Auflösung der Klassen in Kurse für die letzten zwei bis drei Schuljahre. Das eröffnete die Chance, durch Leistungskurse in Latein und sogar Griechisch den Charakter als altsprachliche Schule ‚durch die Hintertür‘ teilweise erhalten zu können – dieser Plan konnte aber nur gelingen, wenn die Jahrgänge groß genug waren, um vielfältige Kursangebote machen zu ‚müssen‘. Waren sie zu klein, drohte mehr denn je die Abwanderung an die Schulen mit großen Zahlen, großen Gebäuden, eigenen Sport- und vor allem Parkplätzen. Und inzwischen waren die Geburten konstant rückläufig, würde ab 1974 jeder Gymnasialjahrgang kleiner sein als der letzte…
Der „Neubau 74“, der heutige C-Trakt, war bei allem Komfort nicht spektakulär genug ausgefallen, um auf Dauer ein schlagendes Argument für die Schulwahl abzugeben. Für das rettende Wachstum sorgte stattdessen die Einführung der Koedukation – ein Schritt, den Helmrath eigentlich ablehnte, wie er auch weiterhin zu Protokoll gab. Anscheinend befürchtete der harte Kern des Kollegiums mehr oder weniger ernsthaft pubertäre Revolten und erotischen Nahkampf in den Fünfminutenpausen – nur um dann ins entgegengesetzte Klischee zu verfallen und vom besänftigenden Einfluss der Mädchen zu schwärmen. Tatsächlich wuchs der Frauenanteil rasch auf gut 30, dann 40% der Jahrgänge und blieb dort stehen, ohne dass Spektakuläres geschah. Auch weiterhin war das KKG im Stadtvergleich eindeutig eine eher ‚brave‘ Schule und zog Eltern mit entsprechenden Absichten an. Wer aus unterschiedlichen Gründen weiter auf Geschlechtertrennung setzte, schickte Söhne ans Pius-Gymnasium, Töchter an die Viktoriaschule oder nach St. Ursula (wohl wegen dieses größeren Angebots blieb es beim Überhang der Jungen am KKG).
Ironischerweise drehten sich die paar Skandale der Schule um Lehrer – in den frühen 1980ern, die besessen von Suchtproblemen waren, ging es hoch her, weil ein Kollegiumsmitglied seinen Drogenbedarf als Kleindealer gedeckt hatte. Politisch brisant war die Diskussion um einen im Opus Dei tätigen Lehrer, an dessen Fall sich die Debatte entzündete, wie mächtig die intransparente, neokonservative Bewegung (der auch Oberbürgermeister Malangré angehörte) im Aachener Katholizismus sei. Im linksliberalen Teil der städtischen Politik – auf den nicht nur die schwindende KKG-Lobby im Rat, sondern auch der Direktor regelmäßig Giftpfeile abschoss – trug das nicht zur Liebe für eine Schule bei, die sich von Jahr zu Jahr stärker als Gegenmodell zum Zeitgeist und zur SPD-geführten Landesregierung der Ära Rau darstellte.
Das Banner der Tradition
Diese Strategie war schon damals riskant – die Grundsatzopposition wurde bis ins sozialtechnisch denkende Kultusministerium zur Kenntnis genommen. Landesgelder flossen ohnehin bevorzugt in den Ausbau des Gesamtschulsystems, von dem man sich Chancengleichheit versprach – und dessen Ausstattung langfristig auch die ‚Kundschaft‘ der Gymnasien abwerben sollte. Die schwarz-roten Lagerwahlkämpfe, die für Nordrhein-Westfalen in den 1970ern typisch waren, trieben die Bildungsvorstellungen beider Parteien noch weiter auseinander. Für Aachen kamen die Härten des Verlusts großer Teile der restlichen Industrie dazu; eine Entlastung durch Gründungen rund um die RWTH war vorläufig nur eine Zukunftshoffnung, die Wiederbelebung der Innenstadt begann erst langsam. Damit bestand für das KKG mehr denn je Gefahr, inhaltlich wie strukturell auf die Verliererseite zu geraten.
Man gab sich außergewöhnlicher, als man war. Auch mit regelmäßigen Latein-Leistungskursen und einer Wahlmöglichkeit für Griechisch als 3. Fremdsprache war das KKG kein altsprachliches Gymnasium nach den Maßstäben der Zeit vor 1964. Lehrer und – manchem immer noch ein Horror – Lehrerinnen wurden nicht vom Direktor ausgesucht, sondern kamen häufig auf Anweisung höherer Dienststellen. Das Domkapitel war nicht mehr Schulträger, sondern Unterstützer der Konkurrenz vom Pius-Gymnasium. In der Kommunalpolitik setzte sogar die CDU die Interessen von Schule und Stadt nicht länger gleich. Gut ein Drittel der Schüler war inzwischen evangelisch, ein damit nicht identisches anderes Drittel bestand aus Schülerinnen.
Diese Tatsachen wurden von der Schulleitung, Teilen der Elternvertretung und dem immer noch mächtigen Ehemaligenverein teils überspielt, teils ausgeklammert. Was Veränderungen anging, verhielt man sich nicht konservativ, sondern restaurativ: man verabscheute sie aus Prinzip und beugte sich ihnen mit lautem Widerwillen. Helmrath mit seiner großen persönlichen Ausstrahlung wählte mehr denn je die Rolle des Patriarchen, der gegen sinkende Qualität und Moral die Standards hochhielt… nur konnten auch am KKG die Leistungskriterien für 900 Kinder nicht so scharf sein wie einst für 600. Im Kollegium gab die – rein männliche – Minderheit der Altsprachler wie selbstverständlich den Ton an und hatte bei Beförderungen die Nase derart vorn, dass es ihrem Anteil an Stundenplan und Gesamtzahl schlicht nicht entsprach. Einschüchternder Unterrichtsstil stand neben Offenheit; Fraktionsbildung und ‚Auswanderung‘ aus dem Lehrerzimmer – teils geistig, teils in die Physik-, Chemie- oder Kunstetage – waren die Folge.
Epochen treffen aufeinander
Die programmatischen Reden der Schulfeste erklärten Klassisches und Religion zum Symbol wahrer Bildung, eines behütenden Widerstandes gegen die haltlos-technisierte moderne Welt da draußen. Das war ein bewusster Rückgriff auf Gedanken der Ära Adenauer. Nur richtete er sich neben Familien, die ihre Kinder „schon immer“ ans KKG geschickt hatten, an die stattliche, aber sinkende Zahl konservativer Familien im Umfeld der RWTH, die im Beruf die beklagten Umbrüche selbst vorantrieben und ihre Kinder nicht annähernd so autoritär erzogen wie vor einem Vierteljahrhundert. Ausgerechnet ihre Fächer hatten hier einen schweren Stand. Was daneben hervorstach, war das weitgehende Fehlen von Kindern eingewanderter Eltern. Das lag nicht allein am erwünschten Ruf als „schwere Schule“; es hatte auch mit der Aufnahmepolitik zu tun, aber mehr noch mit einem Selektionsprozess im Unterricht, der die meisten Außenseiter schon in den ersten Klassen auf andere Schulen trieb. Kinder von Eltern ohne Abitur waren nicht viel weniger verdächtig. Diese neue Arroganz, übrigens ein Bruch mit der tatsächlichen Schulgeschichte, speiste sich vielleicht gerade aus dem heimlichen Wissen, dass man nicht mehr unangreifbar war, und bescheinigte sich offiziell Elitecharakter, weil die Eliten von morgen woanders zu lernen drohten.
Als Helmrath, bei seinen Auftritten von Jahr zu Jahr mit größeren Begeisterungsstürmen empfangen, 1983 in den Ruhestand trat, hinterließ er einen letzten Erfolg: die nach jahrelanger Lobbyarbeit durchgesetzte Sanierung und Umnutzung der im Krieg ausgebrannten Schulkirche. Was mit dem Rest des alten Augustinerklosters geschah, war hochsymbolisch. Im KKG hingen seit Jahren Entwurfszeichnungen eines „Pädagogischen Zentrums“ samt Neubau des eleganten Glockentürmchens; dafür war kein Geld da. Zurück bekam die Schule bloß die halbe Kirche – nur weil die Stadt Zugriff auf die umgetaufte „Aula Carolina“ als Veranstaltungs- und Ausstellungsraum hatte, wurde das Projekt überhaupt verwirklicht. Der Anbau (eine weitere Hoffnung auf mehr Unterrichtsräume) an der Stelle der letzten Kriegstrümmer wurde nicht größer ausgelegt, als es für Garderoben, Umkleiden und Toiletten reichte. Eine restaurierte Fahne aus wilhelminischer Zeit wanderte für einige Jahre an die karge Stirnwand. Zur Abschiedsfeier für Helmrath war der nüchtern gehaltene Raum noch lange nicht fertig; man feierte ihn triumphal in der Turnhalle unter Straßenniveau, die man ihm verdankte. Durch die Tageszeitungen liefen Gerüchte über Schulschließungspläne.